Mercedes: Zum Kaufpreis gibt es in den USA nicht das ganze Elektroauto

Für die Elektro-Modellreihe EQ hat Mercedes in den Vereinigten Staaten nun ein höchst umstrittenes Aufpreismodell in Gang gesetzt. Wer einen elektrisch betriebenen Mercedes erwirbt, erhält zunächst nur eine Version mit eingeschränkter Höchstleistung. Will der stolze Eigentümer die gesamte Power des Fahrzeugs nutzen, sind zusätzliche Zahlungen fällig – entweder im Abo oder als Einmalzahlung. Die Reaktion beim Publikum ist zwiespältig – vorsichtig ausgedrückt.

Natürlich gibt es einen zeitgeistigen Namen für die nachträgliche Freigabe bereits vorhandener Systemeigenschaften: Acceleration Increase. Wer sie nutzen will, muss derzeit noch 1.200 Dollar pro Jahr bezahlen. Dass damit der Bogen überspannt wurde, hat sogar der Autohersteller selbst festgestellt – ein deutlich günstigeres Preismodell ist bereits angekündigt.

Vorhandenes lässt sich nur nach Zusatzzahlung nutzen

Kontrovers beim Mercedes-Aufpreismodell ist die Tatsache, dass der Kunde für sein Geld nicht etwa eine Einrichtung erhält, die zuvor im Fahrzeug nicht vorhanden war. Stattdessen erfolgt nur die softwaregestützte Freigabe der vollen Motorleistung – sowohl bei der Geschwindigkeit als auch bei der Beschleunigung. Was Bedenken auslöst, ist die Tatsache, dass die Käufer gegen Zahlung des vollen Kaufpreises sozusagen nicht das ganze Fahrzeug erhalten.

Dass eine jährliche Zahlung von 1.200 Dollar zur Nutzung des vollen Leistungspotentials selbst die gut situierte Kundschaft von Mercedes überfordert oder zumindest verärgert, ist den Marketingstrategen des Nobelfahrzeug-Herstellers mittlerweile aufgegangen. Eigner des EQE 350 müssen bald nur noch 60 Dollar monatlich oder 600 Dollar jährlich berappen, um die volle Leistung freizuschalten. Beim EQS 450 und den SUVs sind es 90 Dollar monatlich oder 900 Dollar pro Jahr.

Die dadurch gewonnene Zusatzleistung ist allerdings beträchtlich. Beim EQE wächst sie von 215 auf 260 kW, beim EQS von 265 auf 330 kW. Bei beiden Modellreihen bringt das etwa eine Sekunde weniger bei der Beschleunigung von 0 auf 100 Stundenkilometern. Ob das die zusätzliche Zahlung wert ist, muss jeder Nutzer für sich entscheiden.

Dauerlösung per Einmalzahlung

Wer sich nicht mit ständig wiederkehrenden Zahlungen herumschlagen möchte und von einer vieljährigen Nutzung seines Mercedes ausgeht, kann sich durch eine Einmalzahlung freikaufen. Für die EQE-Modellreihe werden 1.950 Dollar fällig, für die EQS-Reihe 2.950 Dollar. Da Mercedes-Fahrzeuge für ihre langen Laufzeiten bekannt sind, wird sich diese Variante wohl bei der Klientel am ehesten durchsetzen. Auch der psychologische Aspekt spricht für die Einmalzahlung: Sie kommt wie ein beim Kauf gewähltes Zubehörteil daher und erinnert Fahrer oder Fahrerin nicht regelmäßig daran, dass ihr Auto quasi eine zusätzliche Nutzungssteuer erhebt.

Paywalls für einzelne Elemente haben auch andere Autohersteller im Programm. Polestar gibt die volle Motorleistung gegen eine Einmalzahlung von 1.200 Dollar frei. Tesla hat dagegen die Reichweite im Visier. Hier gibt es die volle Batteriekapazität nur gegen Zusatzzahlung. BMW gibt bereits vorhandenes Zubehör erst gegen Abogebühren oder Einmalzahlungen frei, beispielsweise die Sitzheizung.

Zwiespältig, aber mit innerer Logik

Etwas, das in einem Wirtschaftsgut bereits vorhanden ist, erst gegen zusätzliche Zahlung freizugeben, hat das, was man im Schwäbischen ein Gschmäckle nennt. Es ist nicht illegal, aber dennoch ethisch oder moralisch nicht ganz einwandfrei. Für die Produzenten macht das allerdings durchaus Sinn: Auf diesem Weg lassen sich unterschiedliche Modellvarianten in einem Fahrzeug vereinen, was die anteiligen Flottenproduktionskosten merklich sinken lässt. Das kompensiert mehr als deutlich den Einbau von Komponenten, die von einem Teil der Kundschaft nicht bezahlt werden.

Anders als bei Verbrennerfahrzeugen gibt es bei Elektroautos für jede Modellvariante meist nur einen Antrieb. Durch die Leistungsbegrenzung lassen sich die Motorklassen der Verbrennerfahrzeuge quasi virtuell nachbilden. Und durch das Zuschalten von Zubehör gegen Bezahlung stellt sich ein und dasselbe Fahrzeug in unterschiedlichen Ausstattungspaketen dar.

Die nächste Zeit wird zeigen, ob Autokäufer diese Form der Produktgestaltung akzeptieren werden. Vor allem die Form der Produktkommunikation durch die Hersteller wird dabei über Wohl und Wehe dieser Strategie entscheiden.