DIW-Chef: EZB soll Zwei-Prozent-Inflationsziel aufgeben

Das zentrale Ziel der aktuellen Finanzpolitik bei der Europäischen Zentralbank (EZB) ist nicht unumstritten. Die Strategie, die Inflation im Euroraum auf ein Niveau von knapp unter 2 Prozent zu bringen und dort zu halten, ruft immer mehr Kritiker auf den Plan. Zuletzt äußerte sich Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mit der krassen Forderung zu Wort, das Zwei-Prozent-Ziel vollständig aufzugeben. Die Gründe des DIW-Chefs machen durchaus Sinn, doch es gibt auch gute Gründe für die straffe Inflationsstrategie der EZB.

Nach Sicht der Europäischen Währungshüter ist eine Inflation um zwei Prozent Voraussetzung für eine stabile Wirtschaft und ein gesundes Wachstum. Doch in den letzten Jahren hat die EZB dieses Ziel immer wieder verfehlt – mal lag die Inflation zu niedrig, mal zu hoch. Aktuell beträgt die Inflationsrate im Euroraum 6,1 Prozent, weit über dem angestrebten Niveau. Dass der Wert fallen muss, ist bei allen Marktbeteiligten unbestritten, doch über die Zielmarke herrscht derzeit starke Uneinigkeit.

Gute Gründe für ein Abweichen vom aktuellen Inflationsziel

Die Bombe ließ Marcel Fratzscher in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt platzen, in dem der DIW-Chef seine Forderung publik machte, die Zwei-Prozent-Zielmarke einzustampfen. Vor allem vier Gründe sprechen seiner Ansicht nach für den Verzicht:

  • Der Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaschutz und Digitalisierung wird systembedingt zu einer dauerhaft höheren Inflation führen, gegen die Zentralbanken nur wenig tun können – und auch nicht sollten.
  • Die Neugestaltung globaler Lieferketten erhöht den Preisdruck und den Einfluss externer Faktoren auf die Inflation. Aus diesem Grund wird es für die Zentralbanken immer schwieriger, die Inflation zu kontrollieren.
  • Die vordringliche Aufgabe der Zentralbanken ist es, Finanzstabilität zu wahren. Das aber führt zu einer Einschränkung der geldpolitischen Spielräume.
  • Es kommt zu immer ausgeprägteren globalen Dysbalancen, vor allem bei der Staatsverschuldung. Das führt zu einer stärkeren fiskalischen Dominanz der nationalen Regierungen. Im Interesse der Preisstabilität muss die EZB bei ihrer Inflationsstrategie darauf Rücksicht nehmen.

Marcel Fratzschers Argument: Diese Faktoren führen dazu, dass die EZB ihr Inflationsziel immer seltener erreichen wird und dadurch einen Vertrauensverlust erleidet. „Je länger und stärker Zentralbanken ihr Inflationsziel verfehlen, desto mehr verlieren sie an Glaubwürdigkeit – und damit die Fähigkeit, Erwartungen zu verankern und wirtschaftliche Akteure in die gewünschte Richtung zu steuern“, so der DIW-Chef in seinem Gastbeitrag.

DIW: Stabilität vor Inflationsbekämpfung

Der DIW-Präsident plädiert dafür, dass die EZB ihr quantitatives Inflationsziel aufgibt und stattdessen Finanzstabilität in der Strategie verankert – und das, nach seinen Worten, “viel expliziter”. Das würde zu mehr Transparenz führen, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Erwartungen leisten und so letztlich die Glaubwürdigkeit von Zentralbanken schützen.

„Es ist an der Zeit, dass sich Zentralbanken eingestehen, dass sie in dieser neuen Welt, die zunehmend von Transformation, Finanzinstabilität und globalen Ungleichgewichten bestimmt wird, einen Teil ihres Einflusses auf die Preisstabilität verloren haben“, meint Marcel Fratzscher.

Kontroverse Reaktionen auf DIW-Vorschlag

Die Forderung von Marcel Fratzscher stößt nicht bei allen Experten auf Zustimmung. Einige halten das Inflationsziel für einen wichtigen Anker der Geldpolitik und warnen vor den Folgen einer hohen oder unkontrollierten Inflation – sowohl für die Wirtschaft als auch für die Gesellschaft. Andere sehen das Problem eher bei der Umsetzung der Geldpolitik durch die EZB und fordern bessere Kommunikation und eine flexiblere Anpassung an die konjunkturelle Lage. Wieder andere plädieren für eine stärkere Koordination zwischen der Geld- und der Fiskalpolitik, um die wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen.

Die EZB selbst hat ihre Inflationspolitik erst vor kurzem überprüft und modifiziert. Unverändert ist dabei allerdings das Zwei-Prozent-Ziel geblieben. Gleichzeitig rudern die Währungshüter auch ein Stück weit zurück: Das anvisierte Ziel sei symmetrisch aufzufassen, soll heißen: Sowohl Abweichungen nach oben als auch nach unten will man tolerieren. Außerdem werde die EZB die Auswirkungen des Klimawandels auf die Geldpolitik künftig stärker berücksichtigen. Im Grunde steckt in dieser Randbemerkung die teilweise Übernahme der DIW-Argumente.

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