Unter 10 Sekunden: Zweifel am italienischen Sexualstrafrecht

Ein äußerst umstrittener Freispruch nach dem sexuellen Übergriff eines 66-Jährigen auf eine minderjährige Schülerin hat für eine internationale Kontroverse, Spott sowie Unverständnis gegenüber dem italienischen Sexualstrafrecht und dessen Auslegung durch die zuständigen Richter in Rom gesorgt. Nach dieser handle es bei einem sexuellen Übergriff erst dann um eine strafrechtlich relevante sexuelle Belästigung, wenn das Opfer für zehn Sekunden oder länger ungewollt in Intimzonen angefasst wird.

Im April 2022 wurde eine 17-jährige und minderjährige Schülerin des Rossellini-Instituts Opfer eines sexuellen Übergriffs des 66-jährigen Hausmeisters der römischen Filmschule. Ungefragt und ohne weiteren Kommentar habe er seine Hände unter ihre Hose und in ihren Slip geschoben sowie sie am Gesäß berührt. Anschließend soll er ihr gegenüber behauptet haben, dass der Übergriff nur als „Scherz“ gemeint war.

Die 17-jährige Schülerin zeigte den Mann anschließend bei der Polizei an. Nach ihren Aussagen habe das ungewollte Anfassen seitens des Hausmeisters „zwischen fünf und zehn Sekunden“ gedauert haben. Während des Gerichtsverfahrens gab dieser zwar zu, das Mädchen ungefragt am Hintern angefasst zu haben, bezeichnete sein Handeln allerdings abermals als einen „Scherz“, mit welchem er sich nur einen harmlosen Spaß erlaubt habe.

10 Sekunden zwischen schlechtem Scherz und sexueller Belästigung

Am Ende des Gerichtsverfahrens sprachen die Richter des römischen Gerichts mit einer eigenwilligen Interpretation des italienischen Sexualstrafrechts den Hausmeister letztlich vom Vorwurf der sexuellen Belästigung frei. Begründung: Ein sexueller Übergriff wie das Grabschen seitens des Mannes müsse mindestens zehn Sekunden andauern, um als Belästigung und damit auch als Straftat bewertet werden zu können. Nach den Aussagen des Opfers habe der Übergriff allerdings nur zwischen fünf und zehn Sekunden gedauert. Damit wäre das ungewollte Anfassen einer Minderjährigen nur ein „ungeschicktes Manöver ohne Triebhaftigkeit“, weswegen der Hausmeister der Filmschule am Ende freigesprochen wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte ihrerseits eine Haftstrafe von 3,5 Jahren gefordert.

Sexuelle Gewalt wird immer noch bagatellisiert

Die Reaktionen auf den Freispruch des Mannes und besonders dessen mehr als eigenwillige Begründung sorgten nicht nur in den italienischen Medien, sondern auch auf europäischer und internationaler Ebene größtenteils für Entsetzen und Spott über das Urteil der römischen Richter. Die betroffene Schülerin empfand die Schlussfolgerung der Justiz als ebenso falsch wie zynisch. Ein alter Mann wie der freigesprochene Hausmeister sollte auf diese Weise nicht mit einer minderjährigen Schülerin scherzen, ließ sie im Anschluss verlautbaren. Sie fühle sich sowohl von ihrer Filmschule als auch der Justiz betrogen und ungerecht behandelt.

Vor allem online und unter den Hashtags #10secondi („10 Sekunden“) sowie #palpatabreve („Kurzes Begrabschen“) ging eine Welle der Entrüstung über den als extrem zynisch, absurd und frauenverachtend wahrgenommenen Richterspruch durch die sozialen Medien und weit darüber hinaus. So wurden etwa bei Instagram oder TikTok zahlreiche Videoclips hochgeladen, in denen mit dem Opfer sympathisierende Menschen, vor allem junge Frauen, sich für zehn Sekunden an intimen Körperstellen berühren oder anfassen lassen. Damit sollte die Absurdität des Richterspruchs in Hinblick auf die als willkürlich empfundene Zeitangabe der Richter verdeutlicht und sichtbar gemacht werden.

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