Gerechtigkeit zweiter Klasse? Die Krux der Pflichtverteidigung

Recht und Gesetz sollen, so Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes, vor allen Menschen gleich sein. Niemand soll, aus welchen Gründen auch immer, bevor- oder benachteiligt werden. Doch das perfekte Ideal und die Realität liegen wie so oft auch hier oftmals weit auseinander. Wer sich keinen eigenen Anwalt bezahlen kann und noch nicht einmal einen Pflichtverteidiger zugewiesen bekommt, wird für eine identische Tat häufig härter bestraft als solche, die sich kompetenten und erfahrenen Rechtsbeistand leisten können.

Studien und immer mehr Erfahrungsberichte zeichnen ein getrübtes Bild der Gleichheit aller Menschen vor dem deutschen Gesetz. Das gilt ganz besonders für den ärmeren Teil der Bevölkerung, der mit nur wenig oder nahezu gar keinem Einkommen auskommen muss. Bei Anklagen werden finanzschwache Personen bei identischen Taten und Anklagen oftmals härter bestraft als wohlhabende Menschen, nicht selten auch mit einer Gefängnisstrafe. Das gilt besonders dann, wenn sich jemand im Falle einer Anklage keinen Wahlverteidiger beziehungsweise einen eigenen Anwalt leisten kann und sich dementsprechend selbst verteidigen muss.

Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Angeklagte in solchen Fällen stets einen Pflichtverteidiger von Seiten des Staates zugewiesen bekämen, haben Angeklagte bei kleineren Delikten, etwa dem wiederholten Nutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln ohne gültige Fahrerlaubnis, meistens eben keinen Anspruch auf einen gestellten Anwalt. Nur dann, wenn beschuldigten Personen ein Verbrechen vorgeworfen wird, die Hauptverhandlung an einem Land- oder Oberlandesgericht stattfindet oder aufgrund des Verfahrens ein Berufsverbot im Raum steht, können diese ihre gerichtliche Vertretung durch einen Pflichtverteidiger beantragen. Das gilt auch im Falle einer Sprach-, Hör- oder Sehbehinderung des oder der Angeklagten.

Pflichtverteidiger stehen vielen Angeklagten nicht zur Verfügung

In der Konsequenz werden, auch aufgrund der wachsenden Armut, immer mehr Angeklagte zu Geldstrafen verurteilt, welche in Relation zur Straftat unverhältnismäßig hoch ausfallen. In einem Fall wurde etwa ein Berliner, der sich zu diesem Zeitpunkt wegen seiner Drogenabhängigkeit in medizinischer Therapie befand, nach dreimaligem Schwarzfahren in den Berliner U-Bahnen zu einer horrenden Geldstrafe verurteilt. Der Mann konnte sich aufgrund seiner Lebenssituation keinen Anwalt leisten und wurde in einem äußerst kurzem Schnellverfahren zu einer horrenden Geldstrafe von mehr als 1.300 Euro verurteilt. Diese Summe stand dem verursachten Schaden eines zweistelligen Euro-Betrages gegenüber.

Der Mann, wie auch viele weitere Angeklagte in solchen und ähnlichen Schnellverfahren, von denen Richterinnen und Richter rund 15 pro Tag abhalten müssen, verschwieg vor Gericht zunächst aus Scham oder falschem Stolz seine Armut und die schwierige Lebenssituation. Ein kompetenter und erfahrener Anwalt hätte eine solch hohe Geldstrafe höchstwahrscheinlich signifikant abmildern und so eine gerechte, wesentlich fairere Strafe erreichen können.

Doch die anklagende Staatsanwaltschaft hat, obwohl sie per Gesetz zur Neutralität verpflichtet ist, oftmals wenig Interesse daran, diese Rolle konsequent einzunehmen. Stattdessen werden höchstmögliche Strafen auch bei geringen Vergehen zum Ziel der Staatsanwälte.

Ein Strafverteidiger wird in solchen Fällen, da die Angeklagten verständlicherweise mit der eigenen Verteidigung und dem gängigen Prozedere der Gerichte ebenso überfordert wie auch eingeschüchtert sind, ein starkes Gegengewicht zur offensiven Staatanwaltschaft bilden können. Doch ob und welche Anwälte die angeklagte Person beauftragen kann, hängt eben primär vom eigenen Vermögen ab. Auch Experten für Strafrecht und Strafprozessrecht sind der Meinung, dass die Strafe umso geringer ausfalle, je mehr Geld der Angeklagte zur Verfügung habe. Das sei ein großes Problem in Sachen Gleichheit und auch im Hinblick auf die Gerechtigkeit.

Je weniger Vermögen, desto weniger Gerechtigkeit vor Gericht?

Ein weiteres Problem: Eher wohlhabende Menschen können Geldstrafen zumeist zeitnah und problemlos bezahlen. Ärmere Personen können genau das in vielen Fällen allerdings nicht. Wer nach der Urteilsverkündung eine solche Strafe nicht begleichen kann und auch nicht das entsprechende Pendant in Sozialstunden abarbeitet, muss in der Regel eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis absitzen. Die Zahl der Hafttage entspricht dabei noch jener der verhängten Tagessätze. Allein in Nordrhein-Westfalen sitzen laut der Landesjustizvollzugsdirektion des Bundeslandes (Stand: Juni 2023) rund 1530 Menschen aufgrund einer solchen Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis.

Gerichtssaal

Das Bundesjustizministerium unter dem amtierenden Minister Marco Buschmann (FDP) möchte in Zukunft laut aktuellen Interviews nicht nur die Zahl der Hafttage bei einer Ersatzfreiheitsstrafe halbieren, sondern auch die Erweiterung der Pflichtverteidigung diskutieren. Hier wären allerdings zahlreiche unterschiedliche Faktoren zu bedenken und untereinander abzuwägen. Dazu gehören etwa die Fragen nach der Zuständigkeit von Pflichtverteidigern und natürlich auch nach den Kosten für den deutschen Staat und damit letztlich auch die gesamte Bevölkerung.

Eine Pflichtverteidigung für jeden Angeklagten bei jeder Art von Delikt wäre zum Beispiel überaus idealistisch, aber wohl kaum zu finanzieren. Eine Ausweitung der Delikte, bei denen das Recht auf einen Pflichtverteidiger in Anspruch genommen werden kann, wäre hier schon realistischer. Aber auch hier wäre eine präzise Abgrenzung in Sachen Schwere der Delikte schwierig.

Im europäischen Vergleich gilt das Rechtssystem Deutschlands als relativ streng und restriktiv. Andere Länder, zum Beispiel Spanien, sind hier flexibler und oftmals auch nachsichtiger bei Urteilen und den verhängten Strafen für die Angeklagten. Es wird sich zeigen, ob Gefängnisstrafen für Delikte mit einem marginalen Schaden, zum Beispiel Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, in naher Zukunft der Vergangenheit angehören könnten.

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