Christian Lindner: „Das Geschäftsmodell Deutschland ändert sich“

Zum Auftakt des Ludwig-Erhard-Gipfels im April sprach sich Bundesfinanzminister Christian Lindner für eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Politik und Wirtschaft aus. Die russische Aggression gegen die Ukraine habe auf dramatische Weise aufgezeigt, dass das bisherige Geschäftsmodell der Bundesrepublik in der vorliegenden Form nicht mehr tragfähig ist.

Vor allem die Strategie, Fragen der Sicherheit an die USA und Problemlösungen bei der Energieversorgung an Russland auszulagern, habe sich nicht als zukunftsfähig erwiesen. „Unser Geschäftsmodell hat in Teilen darauf basiert, günstige Energie aus Russland zu importieren. Ich sehe das nicht mehr zurückkommen“, kommentiert Christian Lindner die aktuelle Situation.

Deutschland kann die eigene Sicherheit nicht gewährleisten

Die Bundesrepublik habe es sich zur Gewohnheit gemacht, die Aufrechterhaltung der eigenen nationalen Sicherheit an die USA outzusourcen, so der Bundesfinanzminister. Das könne so nicht fortgesetzt werden.

“Wir haben uns sogar in ein dreifaches Risiko begeben”, so Christian Lindner. “Bei Energie aus Russland, Sicherheit aus den USA und Geschäften mit China sind wir jeweils in zu große Abhängigkeiten geraten.“ Das alles weise deutlich in die Richtung eines strategischen Neubeginns, oder mit anderen Worten: Deutschland müsse sein Geschäftsmodell neu begründen.

Neue Energiequellen, saubere Technologien, bessere Lieferketten, innovativere Produkte und eine starke Bundeswehr – das sind laut Christian Lindner die Elemente, aus denen das neue Geschäftsmodell der Bundesrepublik bestehen muss. Allem voran müsse allerdings ein Gesinnungswandel eintreten: “Deutschland braucht eine neue Kultur der Anstrengung in unserer Marktwirtschaft”, beschreibt der Bundesfinanzminister das Modell einer erneuerten nationalen Kultur. “Die Wohlstandsgewinne durch günstige Energieimporte werden nicht wiederkommen.”

Erneuerbare Energien als Schlüsselfaktor

Der forcierte Ausbau erneuerbarer Energien stehe im Zentrum der erforderlichen Maßnahmen, betont Christian Lindner und führt auch gleich das zugehörige Schlagwort in die Debatte ein: Freiheitsenergien. Der Name soll gleichzeitig Programm sein, denn nachhaltige Energiequellen in eigener Regie sollen das Land frei von Abhängigkeiten machen.

Dennoch wird Deutschland auch in Zukunft nicht ohne Energieimporte auskommen. Diese sollen allerdings grundsätzliche Änderungen erfahren – weg von den fossilen Energieträgern, hin zu nachhaltigen Alternativen wie grüner Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe.

Auch bei den Lieferländern sei eine grundlegende Neubewertung unabdingbar. Die Strategie lautet: Importe aus so viele verschiedenen Weltregionen wie möglich, um von politischen und anderen Unwägbarkeiten weitgehend unabhängig zu werden.

Nutzung eigener Öl- und Gasvorkommen sinnvoll

In gewisser Weise antagonistisch erscheint in diesem Zusammenhang die Forderung des Bundesfinanzministers, auch die eigenen, bisher nicht genutzten Öl- und Gasvorkommen zu aktivieren, vornehmlich in der Nordsee. Christian Lindner gibt dazu eine deutliche politische Botschaft ab: “Um es klar zu sagen: Ich halte die Festlegung des Koalitionsvertrages, dass wir in der Nordsee nicht mehr Öl und Gas fördern wollen und keine neuen Felder explorieren wollen, für aus der Zeit gefallen.“

Grund für den Rückgriff auf noch unerschlossene fossile Energievorräte sei die drohende Versorgungslücke, wenn es zum Ende der Gaslieferungen aus Russland kommt, von welcher Seite auch immer veranlasst. Das erfordere neben dem systematischen Ausbau der erneuerbaren Energien, auch die Alternativen im Auge zu behalten.

Angesichts der rapide gestiegenen Energiepreise habe die Nutzung der eigenen fossilen Vorkommen eine unvermutet bedeutsame Wirtschaftlichkeitsperspektive. “Insbesondere mit den Niederlanden müssen wir schauen, was da in der Nordsee konkret geht“, so Christian Lindner.

Nach Schätzungen des Bundesverbands Erdgas, Erdöl und Geoenergie ließe sich alleine aus dem Erdgasfeld im deutsch-niederländischen Grenzgebiet rund eine Milliarde Kubikmeter Erdgas fördern – nach Ansicht des Bundesfinanzministers genug, um bei einem plötzliche Lieferausfall einen Großteil der Versorgungslücke zu füllen.