Phantomdiagnosen in der elektronischen Patientenakte
Seit der verpflichtenden Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) im Oktober erhalten gesetzlich Versicherte erstmals einen umfassenden Einblick in ihre Gesundheitsdaten und erleben dabei teils böse Überraschungen. Immer mehr Patienten stoßen auf falsche, übertriebene oder sogar frei erfundene Diagnosen in ihren Unterlagen. Besonders häufig betrifft das psychische Erkrankungen oder chronische Leiden, die nie bestanden haben. Was zunächst nach einem bürokratischen Fehler klingt, kann gravierende Folgen haben – finanziell, beruflich und rechtlich.
Ein falscher Eintrag in der Patientenakte kann weitreichende Auswirkungen haben. Wer in die private Krankenversicherung wechseln oder eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen möchte, muss in der Regel alle dokumentierten Diagnosen offenlegen. Enthält die Akte Krankheiten, die nie existierten, wird der Versicherungsantrag häufig abgelehnt oder nur mit erheblichen Zuschlägen akzeptiert. Selbst beim Zugang zu bestimmten Berufen, etwa im öffentlichen Dienst oder im Gesundheitswesen, können solche Phantomdiagnosen zum Hindernis werden.
So berichtet die Neue Westfälische von einem Bielefelder Versicherten, der seine elektronische Akte einsehen wollte, um Gesundheitsdaten für eine Versicherung zu prüfen. Zu seiner Verwunderung fand er dort gleich mehrere schwere Erkrankungen: eine akute Gastritis, Ohnmachtsanfälle und eine Blutgerinnungsstörung – Diagnosen, von denen er nie etwas gehört hatte. Auf dem Papier galt er plötzlich als Hochrisikopatient, obwohl er nie behandelt worden war.
Finanzielle Fehlanreize und ein undurchsichtiges System
Hinter den falschen Einträgen steckt nach Einschätzung von Experten kein Zufall, sondern ein strukturelles Problem. Zwischen Ärzten und Krankenkassen existiert ein Anreizsystem, das für bestimmte Diagnosen höhere Pauschalen vorsieht. Für chronische oder schwerwiegende Erkrankungen erhalten Ärzte mehr Geld und Krankenkassen profitieren, wenn sie viele „kranke“ Versicherte melden, da sie dadurch im sogenannten Risikostrukturausgleich höhere Zuweisungen erhalten.
Techniker-Krankenkassenchef Jens Baas warnte bereits vor einem regelrechten Wettbewerb zwischen den Kassen: Wer es schafft, Ärzte zu veranlassen, möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, erhält mehr Mittel. Aus leichten Beschwerden werden so schnell schwerwiegende Krankheitsbilder – mit finanziellen Vorteilen für die Beteiligten, aber gravierenden Konsequenzen für die Betroffenen.
Abrechnungsbetrug oder ärztliche Sorglosigkeit?
Offiziell weisen Ärzteverbände den Verdacht systematischer Manipulation zurück. Der Hausärztinnen- und Hausärzteverband Deutschland betont, es gebe keine belastbaren Zahlen, die auf absichtliche Falschdokumentationen hindeuten. Diagnosen würden „nach bestem Wissen und Gewissen“ gestellt, Fehler seien Ausnahmen. Dennoch zeigen Zahlen des GKV-Spitzenverbands, dass Fehlverhalten im Gesundheitswesen ein wachsendes Problem ist: Allein in den Jahren 2022 und 2023 belief sich der Gesamtschaden auf über 200 Millionen Euro – der höchste Wert seit Beginn der Erfassung.
Oberstaatsanwalt Daniel Hader von der Zentralstelle zur Bekämpfung von Korruption und Betrug im Gesundheitswesen in Nürnberg erklärt, dass sich Manipulationen schwer nachweisen lassen. Ärztinnen und Ärzte hätten großen Ermessensspielraum bei der Diagnose. Entsprechend selten würden solche Fälle angezeigt oder juristisch verfolgt.
Korrekturen sind kompliziert und selten erfolgreich
Wer falsche Diagnosen entdeckt, steht vor einem weiteren Problem: Einmal eingetragene Daten lassen sich kaum löschen. Zwar können Patienten eine Korrektur beantragen, doch rechtlich verpflichtet sind Ärztinnen und Ärzte dazu nicht. „Im Zweifel sitzt der Arzt immer am längeren Hebel“, sagt Anja Lehmann von der Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland. Selbst wenn ein Arzt die Einträge ändert, bleibt die ursprüngliche Diagnose in vielen Fällen weiterhin im System sichtbar, oder in älteren Datensätzen bestehen.
Das Bundesgesundheitsministerium verweist darauf, dass Manipulationen im Abrechnungssystem inzwischen erschwert wurden. Doch das Vertrauen in die Richtigkeit medizinischer Dokumentationen ist beschädigt. Die Patientenberatung empfiehlt daher dringend, regelmäßig Einsicht in die elektronische Patientenakte zu nehmen – entweder über die ePA-App oder durch eine Patientenquittung der Krankenkasse. Nur so lassen sich fehlerhafte Einträge frühzeitig entdecken und korrigieren.
Mehr Transparenz, aber auch mehr Verantwortung für Patienten
Die Einführung der ePA sollte eigentlich für mehr Transparenz sorgen. Nun zeigt sich, dass sie zugleich ein neues Bewusstsein für die Qualität medizinischer Dokumentation geschaffen hat und ihre Schwächen offenlegt. Der digitale Zugriff ermöglicht zwar Kontrolle, überträgt aber auch Verantwortung: Wer seine Daten nicht prüft, riskiert, dass falsche Diagnosen unentdeckt bleiben und Jahre später zum Hindernis werden.
Am Ende steht die Erkenntnis, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht nur technische, sondern auch ethische Fragen aufwirft. Die ePA kann ein Instrument der Transparenz sein, oder ein Spiegel systemischer Fehlanreize. Welche Rolle sie künftig spielt, hängt davon ab, ob Ärzte, Kassen und Politik den Mut aufbringen, Missstände konsequent zu korrigieren und Patienten das Recht auf Wahrheit in der eigenen Akte sichern.