Luxuslabel made in China? TikTok-Videos sollen die Modeindustrie entlarven
Inmitten wachsender geopolitischer Spannungen zwischen den USA und China verlagert sich der Handelskonflikt zunehmend in die sozialen Medien. TikTok, die Kurzvideo-Plattform, avanciert dabei zur Bühne für eine beispiellose Kampagne: Unter dem Hashtag #chinesemanufacturer posten chinesische Influencer massenhaft Videos, in denen sie behaupten, hinter der Produktion weltbekannter Luxusgüter zu stehen. Der Vorwurf: Europäische Marken täuschen ihre Kundschaft über den wahren Ursprung ihrer Produkte – und produzieren diese nicht etwa in Italien oder Frankreich, sondern in chinesischen Fabriken.
Im Zentrum dieser viralen Bewegung steht der TikToker Wang Seng. In einem seiner meistgesehenen Clips spricht er stellvertretend für einen chinesischen Handtaschenhersteller und behauptet, dass rund 80 Prozent aller Luxushandtaschen weltweit aus China stammen. Die Marken würden die beinahe fertigen Produkte lediglich ins Heimatland zurückführen, um sie zu verpacken, zu labeln und anschließend als „Made in Italy“ oder „Made in France“ auszugeben.
Diese Erzählung stützt sich auf das Prinzip des OEM (Original Equipment Manufacturer) – einem gängigen Modell in der Industrie, bei dem Produkte von einem Dritthersteller gefertigt und später unter anderem Namen verkauft werden. Einige Videos zeigen sogar spezifische Produktionskosten, etwa für eine Hermès Birkin Bag, die angeblich in China für etwa 1400 US-Dollar gefertigt wird – gegenüber einem Verkaufspreis von über 38.000 US-Dollar.
Wo endet Transparenz, wo beginnt Manipulation?
Fachleute bleiben jedoch skeptisch. Noëmie Leclercq, investigative Journalistin mit Fokus auf die Luxusbranche, vermutet, dass viele der gezeigten Artikel in Wahrheit Fälschungen sind. Sie warnt vor einer gezielten Desinformationsstrategie, bei der das Thema Produkttransparenz geopolitisch instrumentalisiert wird. Auch Fernando Fastoso, Professor für Luxusmarketing an der Hochschule Pforzheim, hält die Vorwürfe für überzogen – zumindest was die Spitzenmarken wie Hermès oder Louis Vuitton betrifft. Diese seien zu stark auf ein makelloses Markenimage angewiesen, als dass sie die Produktionsstandorte heimlich verlagern könnten.
Dennoch räumt Fastoso ein: Die Lieferketten vieler Marken seien undurchsichtig. Begriffe wie „Made in Italy“ könnten in der Praxis bedeuten, dass nur der letzte Verarbeitungsschritt – etwa das Zusammennähen einzelner Komponenten – in Europa erfolgt ist. Dies genügt nach EU-Recht bereits für die Ursprungsbezeichnung.
Die Brisanz der Debatte liegt nicht nur in der Möglichkeit, dass Luxusgüter günstiger produziert werden als angenommen – sondern auch in der Art, wie die Informationen verbreitet werden. TikTok ist dabei kein neutraler Kanal. Die Plattform, deren Mutterkonzern ByteDance in China sitzt, wird gezielt genutzt, um insbesondere junge westliche Konsumenten zu erreichen. Unterstützt wird die virale Verbreitung durch Diskussionen auf Reddit und anderen sozialen Netzwerken.
Gleichzeitig steigt die Beliebtheit von Plattformen wie DHgate oder Taobao, auf denen vermeintliche Luxus-Dupes für einen Bruchteil des Preises verkauft werden. Diese Entwicklung ruft neue Fragen über Authentizität, Markenschutz und Konsumverhalten auf den Plan.
Die Stimme der Industrie: Defensive und Schweigen
Luxusunternehmen selbst halten sich weitgehend bedeckt. Weder dementieren sie die Vorwürfe direkt noch geben sie detaillierte Einblicke in ihre Lieferketten. Ausnahmen wie Lululemon räumen immerhin ein, dass man mit chinesischen Produzenten zusammenarbeitet – betonen aber, dass keine der in den Videos genannten Fabriken zu den offiziellen Partnern gehört.
Frank Müller, Dozent an der Universität St. Gallen und Experte für Markenführung, bestätigt: „Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Marken mehr im Ausland produzieren, als sie öffentlich zugeben.“ Der Imageverlust, der durch diese Enthüllungen entstehen könnte, wiege jedoch schwer. Deshalb sei es wahrscheinlich, dass zumindest Premium-Labels ihre Fertigung bewusst im Heimatland belassen – oder dies zumindest suggerieren.
Konsum als Statement: Warum wir trotzdem kaufen
Doch selbst wenn Teile der Vorwürfe zutreffen – gefährden sie tatsächlich das Geschäftsmodell der Luxusindustrie? Müller glaubt nicht daran. „Luxus bedeutet mehr als Qualität oder Herkunft. Es ist ein Statement, ein Ausdruck von Status und Identität.“ Wer 38.000 Dollar für eine Handtasche zahlt, tue dies nicht allein für das Leder oder die Verarbeitung, sondern für das Gefühl, Teil einer exklusiven Welt zu sein.
Diese emotionale Komponente macht es schwer, mit günstigeren Alternativen – so identisch sie auch sein mögen – ernsthaft zu konkurrieren. Dennoch zeigt der mediale Wirbel: Die Marken stehen unter Druck. Die Forderung nach mehr Transparenz wird lauter, und die Debatte über Produktionsstandorte und Preisgestaltung ist nicht mehr nur eine Frage von Wirtschaft – sondern auch von Ethik.
Die TikTok-Offensive hat ein Tabu gebrochen: Sie zwingt eine traditionsreiche Branche, ihre Abläufe zu hinterfragen und ihren Kunden mehr Ehrlichkeit zuzumuten. Denn während der Vorwurf der Heuchelei im Raum steht, wünschen sich Konsumenten zunehmend glaubwürdige Geschichten hinter den Produkten, die sie kaufen.