Kassenärzte wollen Attestpflicht erst ab dem vierten Tag

Die Debatte um spätere Attestpflicht gewinnt zum Start der Erkältungssaison an Fahrt. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, will die Pflicht zur ärztlichen Bescheinigung erst ab dem vierten – perspektivisch sogar fünften – Krankheitstag greifen lassen. Sein Ziel: weniger überflüssige Praxisbesuche, mehr Eigenverantwortung und spürbare Entlastung für ein System, das an vielen Stellen unter Druck steht.

Gassen kritisiert vor allem die Ausnahmeregel im Entgeltfortzahlungsgesetz: Arbeitgeber dürfen bereits an den ersten drei Krankheitstagen eine Bescheinigung verlangen. Das produziere „Abertausende“ Termine ohne medizinische Notwendigkeit und binde Kapazitäten, die anderswo fehlen. Zahlen aus der Versorgung stützen den Befund: In Deutschland werden jährlich rund 116 Millionen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt, etwa 35 Prozent davon betreffen Erkrankungen mit maximal drei Tagen Dauer. Fiele dieser Block durch eine verlängerte Karenzzeit weg, wäre nach KBV-Rechnung eine Entlastung von rund 1,4 Millionen Arztstunden möglich; die Kostendämpfung veranschlagt Gassen auf etwa 100 Millionen Euro pro Jahr. Zudem gewänne das Attest wieder den Charakter eines echten ärztlichen Dokuments und nicht bloß eines Pflichtformulars.

Widerstand der Arbeitgeber

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hält wenig von einer pauschalen Verlängerung. Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter spricht von einer „Nebelkerze“: Der Vorschlag verschiebe Verantwortlichkeiten, löse jedoch keine strukturellen Effizienzprobleme. Gefordert sei eine gezieltere Patientensteuerung, damit das Gesundheitswesen leistungsfähig und bezahlbar bleibe. Die Sorge der Unternehmen: Spätere Nachweispflichten erschweren Disposition und Kontrolle, erhöhen Missbrauchsrisiken und lassen die ohnehin steigenden Lohnfortzahlungskosten weiter anwachsen. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) summierten sich diese 2025 auf rund 82 Milliarden Euro – Tendenz steigend.

Rechtsgrundlage bleibt § 5 EFZG: Spätestens am vierten Kalendertag ist ein Attest vorzulegen – es sei denn, der Arbeitgeber ordnet eine frühere Vorlage an, sogar ab Tag 1. Seit Januar 2023 läuft die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU): Der Arbeitgeber ruft die Daten bei der Krankenkasse ab, während Beschäftigte weiterhin verpflichtet sind, die Erkrankung und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich zu melden. Arbeitsgerichte haben wiederholt bestätigt, dass Arbeitgeber eine frühe Attestpflicht auch ohne Anlass anordnen dürfen, sofern arbeitsvertraglich, per Betriebsvereinbarung oder im Einzelfall geregelt.

Besonderheiten und Entgeltfortzahlung im öffentlichen Dienst

Beschäftigte in Kommunen und Behörden melden sich am ersten Krankheitstag zum Arbeitsbeginn krank und nennen die voraussichtliche Dauer. Ein Attest ist – wie allgemein – spätestens am vierten Kalendertag vorzulegen, kann aber früher verlangt werden. In TVöD und TV-L besteht die Entgeltfortzahlung ohne Wartezeit bereits in den ersten vier Wochen des Arbeitsverhältnisses. Auf die Jahressonderzahlung wirken sich Krankheitszeiten grundsätzlich nicht aus, solange Anspruch auf Entgeltfortzahlung (sechs Wochen) oder Krankengeldzuschuss besteht; Besonderheiten ergeben sich, wenn lange Fehlzeiten in den Bemessungszeitraum fallen.

Mehr Fälle, längere Dauer

Seit Beginn der 2020er-Jahre klettert der Krankenstand – pandemiebedingte Effekte, psychische Belastungen und Demografie wirken zusammen. Für Unternehmen bedeutet das nicht nur höhere Lohnfortzahlung, sondern auch organisatorische Folgekosten: Produktionsausfälle, Umverteilung von Arbeit, Qualitätsrisiken. Entsprechend rückt die Krankmeldung vom Personalthema zum betriebswirtschaftlichen Faktor auf.

Die eAU sollte Prozesse vereinfachen, schafft in der Praxis aber neue Unsicherheiten. Personaler berichten von technikbedingten Verzögerungen bei der Abrufbarkeit, einzelne eAUs tauchen erst Tage später im System auf. Wo Fristen eng sind, drohen Konflikte – zumal seit Ende 2023 telefonische Krankschreibungen bei leichten Atemwegsinfekten dauerhaft zulässig sind. Befürworter sehen darin pragmatische Entlastung, Kritiker warnen vor einer „Grauzone des Vertrauens“.

Im Reformumfeld kursieren zwei ergänzende Ideen. Erstens: Karenztage, wie sie skandinavische Länder kennen – Lohnfortzahlung setzt erst ab Tag 2 oder 3 ein. Das könnte spontane Kurzabwesenheiten dämpfen, träfe aber Beschäftigte mit niedrigen Einkommen besonders hart. Zweitens: Teilkrankschreibungen, mit denen Betroffene stundenweise zurückkehren und Belastung steigern können. Das kann die Produktivität erhöhen und zugleich die Genesung unterstützen; rechtlich wäre dafür eine klarere Grundlage nötig.

Kontrolle bleibt möglich – Daten bleiben geschützt

Arbeitgeber sind nicht rechtlos: Bei begründeten Zweifeln kann der Medizinische Dienst der Krankenkassen eingeschaltet werden. Verspätete Atteste können eine Abmahnung nach sich ziehen, im Wiederholungsfall drohen schärfere arbeitsrechtliche Schritte. Unantastbar bleibt die Diagnose – mitgeteilt werden nur Art („arbeitsunfähig“) und Dauer. Damit kollidiert die Vertrauensdebatte nicht mit dem Grundsatz des Datenschutzes.

Zwischen Misstrauen und Mündigkeit

Soziale Netzwerke spiegeln das Spannungsfeld: Für die einen ist die Attestpflicht am ersten Tag legitime Vorsorge, für andere Ausdruck misstrauischer Führung. Umfragen deuten darauf, dass die meisten Beschäftigten das System korrekt nutzen; gleichzeitig beklagen Betriebe Planungsrisiken. Die politische Ebene lotet derweil Spielräume aus – Einsparziele der Gesundheitspolitik, Einwände der Wirtschaft und Entlastungswünsche der Ärzteschaft prallen aufeinander.

Die spätere Attestpflicht ist kein Allheilmittel, aber ein Hebel, der Millionen Kurzbesuche in Praxen vermeiden kann. Ob der Nutzen überwiegt, hängt von der Flankierung ab: stabile eAU-Infrastruktur, klare Spielregeln für Frühanforderungen, praxistaugliche Optionen wie Teilrückkehr und eine gezielte Steuerung der Patientenströme. Für Unternehmen braucht es zugleich Planbarkeit – etwa über interne Meldeprozesse, Vertretungspools und transparente Kriterien, wann ein Attest vor Tag 4 verlangt wird.

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