Die Debatte um den hohen Krankenstand in Deutschland

Die Krankenstände in Deutschland sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Ob es die Folgen der Coronapandemie, die Digitalisierung des Gesundheitssystems oder eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsmoral sind – die Ursachen und möglichen Maßnahmen zur Senkung der Krankheitsausfälle werden aktuell intensiv diskutiert.

Seit 2022 sind die Krankenstände auf einem Rekordniveau. Nach Angaben der Krankenkasse DAK-Gesundheit stieg die Zahl der Fehltage pro Arbeitnehmer um 37,6 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren. Durchschnittlich fehlte jeder Versicherte 20 Tage im Jahr, während es zuvor nur etwa 15 Tage waren. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch in anderen Regionen Deutschlands.

Ein zentraler Faktor für den Anstieg scheint die Digitalisierung des Gesundheitssystems zu sein. Seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) werden Krankmeldungen automatisch an die Krankenkassen übermittelt. Dies führte zu einem sprunghaften Anstieg der erfassten Krankschreibungen, da früher viele Arbeitnehmer den zweiten Zettel für die Krankenkasse nicht einreichten. Laut Ärztekammerpräsident Klaus Reinhardt werden heute nahezu alle Krankschreibungen vollständig erfasst, was den Anstieg der gemeldeten Fehltage maßgeblich beeinflusst.

Die wirtschaftlichen Kosten der Krankheitsausfälle

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) schätzt, dass die Arbeitsunfähigkeitstage 2023 insgesamt 128 Milliarden Euro an Produktionsausfällen verursachten. Besonders Erkältungskrankheiten und Atemwegsinfektionen spielten dabei eine große Rolle, bedingt durch verstärkte Krankheitswellen nach den Pandemie-Lockdowns.Arbeitgeberverbände haben die finanzielle Belastung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall thematisiert. Im Jahr 2023 beliefen sich diese Kosten auf über 77 Milliarden Euro. Angesichts dieser Zahlen werden Stimmen laut, die die bestehende Regelung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kritisieren.

Vorschläge für Reformen: Karenztag und Teilzeitkrankschreibung

Ein viel diskutierter Vorschlag ist die Wiedereinführung des Karenztags, der eine Entgeltfortzahlung erst ab dem zweiten Krankheitstag vorsieht. Diese Regelung existierte in Deutschland bis in die 1990er Jahre, wurde jedoch aufgrund von Streiks und politischem Druck abgeschafft. Befürworter wie der Allianz-Vorstand Oliver Bäte argumentieren, dass ein Karenztag die Zahl der Krankmeldungen reduzieren könnte. Gegner entgegnen, dass dies eine unzumutbare Belastung für Arbeitnehmer darstellt und möglicherweise zu einer Verschärfung der gesundheitlichen Probleme führen könnte.

Ein weiterer Ansatz ist die Einführung von Teilzeitkrankschreibungen. Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Wirtschaft, schlägt vor, Arbeitnehmer mit leichten Erkrankungen teilweise arbeiten zu lassen. Dies könnte helfen, Produktionsausfälle zu minimieren, stößt jedoch auf Kritik von Gewerkschaften und Sozialpolitikern, die befürchten, dass halbkranke Mitarbeiter andere anstecken oder längerfristig ausfallen könnten.

Anwesenheitsbonus als eine kontroverse Idee

Die FDP brachte kürzlich den Vorschlag eines Anwesenheitsbonus ins Gespräch. Arbeitnehmer, die selten fehlen, könnten durch finanzielle Anreize oder zusätzliche Urlaubstage belohnt werden. Ein Experiment in einer deutschen Supermarktkette untersuchte diese Idee und zeigte jedoch überraschende Ergebnisse: Auszubildende, die einen finanziellen Bonus erhielten, fehlten häufiger als die Kontrollgruppe. Der Bonus schien das schlechte Gewissen der Arbeitnehmer zu mindern, wodurch Fehltage sogar zunahmen. Dieses Ergebnis stellt die Effektivität solcher Maßnahmen infrage.

Unklare Datenlage erschwert Debatte

Eine weitere Herausforderung in der Diskussion ist die unzureichende Datenlage. Da viele Arbeitgeber bei kurzen Fehlzeiten kein ärztliches Attest verlangen, bleibt unklar, wie viele Arbeitnehmer tatsächlich nur für ein bis drei Tage krank sind. Der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK) schätzt, dass etwa ein Drittel der gemeldeten Krankschreibungen auf Kurzzeiterkrankungen zurückgeht, doch genaue Zahlen fehlen.

Die Rolle von Erkältungswellen und Corona

Neben der Digitalisierung des Gesundheitssystems trugen auch verstärkte Erkältungswellen und Corona-Infektionen zu den steigenden Fehltagen bei. Während der Pandemie waren Atemwegserkrankungen aufgrund von Kontaktbeschränkungen und Lockdowns seltener. Nach der Lockerung der Maßnahmen stiegen die Zahlen jedoch wieder stark an. Laut der DAK-Studie entfallen etwa zwei Drittel des Anstiegs der Krankmeldungen auf die Digitalisierung, während ein Drittel auf vermehrte Erkältungen zurückzuführen ist.

Politische Zurückhaltung bei Reformen

Trotz der intensiven Debatte zeigen sich die politischen Entscheidungsträger zurückhaltend. Weder die SPD noch die Union haben konkrete Pläne, die Regelungen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu ändern. Arbeitsminister Hubertus Heil erklärte, dass es mit seiner Partei keine Einschränkung der Lohnfortzahlung geben werde. Auch CDU-Vertreter wie Karl-Josef Laumann äußern sich skeptisch gegenüber einer Wiedereinführung des Karenztags.

Während Arbeitgeber die finanziellen Belastungen betonen, verweisen Arbeitnehmervertreter auf die Notwendigkeit sozialer Sicherheit. Die Digitalisierung des Gesundheitssystems hat die Zahlen zwar transparenter gemacht, doch gleichzeitig zeigt sich, dass ein Großteil der Debatte im Nebel unzureichender Daten geführt wird. Ob Maßnahmen wie der Karenztag, Teilzeitkrankschreibungen oder ein Anwesenheitsbonus langfristig erfolgreich sein können, bleibt zunächst ungewiss.