Arbeitsmarktpotenzial älterer Menschen: Wie 1,36 Millionen Arbeitskräfte aktiviert werden können
In den kommenden Jahren wird der Anteil der älteren Arbeitnehmer erheblich zunehmen. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt auf, wie durch gezielte Maßnahmen bis zum Jahr 2035 das Arbeitsvolumen von 1,36 Millionen Vollzeitbeschäftigten in der Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen mobilisiert werden könnte. Dies könnte nicht nur den demografisch bedingten Rückgang der Erwerbstätigkeit nahezu ausgleichen, sondern auch dem Fachkräftemangel entgegenwirken.
Die Ausgangslage: Demografischer Wandel und Arbeitsmarkt
Der demografische Wandel hat weitreichende Auswirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wird die Zahl der Erwerbstätigen in der Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen bis 2035 aufgrund sinkender Geburtenraten und einer alternden Gesellschaft um etwa 1,5 Millionen auf rund neun Millionen Menschen sinken. Dieser Rückgang könnte durch geeignete Maßnahmen jedoch abgefedert werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Aktivierung des Potenzials der Älteren, die entweder bereits im Ruhestand sind oder in Teilzeit arbeiten.
Ein Blick nach Schweden zeigt, dass es möglich ist, ältere Menschen länger im Berufsleben zu halten. Dort sind nicht nur mehr Menschen in höherem Alter erwerbstätig, sie berichten auch von einer hohen Lebenszufriedenheit. Diese positiven Erfahrungen könnten als Vorbild dienen, um ähnliche Maßnahmen in Deutschland zu implementieren und das Potenzial der älteren Generation zu heben.
Die drei entscheidenden Faktoren: Können, Wollen, Dürfen
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat drei wesentliche Faktoren identifiziert, die über die Erwerbstätigkeit älterer Menschen entscheiden: Können, Wollen und Dürfen. Diese drei Aspekte müssen berücksichtigt werden, wenn es darum geht, das Beschäftigungspotenzial Älterer voll auszuschöpfen.
Unter „Können“ versteht man die Fähigkeiten und die Gesundheit der älteren Arbeitnehmer. Es ist entscheidend, dass diese Arbeitnehmer durch Weiterbildungen und Gesundheitsförderung unterstützt werden, um länger im Beruf bleiben zu können. Hierbei spielen Prävention und lebenslanges Lernen eine zentrale Rolle. Besonders in Berufen mit hohen körperlichen Anforderungen, wie in der Produktion oder im Handwerk, sind altersgerechte Arbeitsplätze notwendig. Beispielsweise könnten Produktionsmitarbeiter im höheren Alter in weniger körperlich anstrengende Positionen wechseln oder technische Hilfsmittel, wie Hebelifte in der Pflege, eingesetzt werden, um die Arbeitsbelastung zu reduzieren.
Der Aspekt „Wollen“ bezieht sich auf die Motivation der Arbeitnehmer. Finanzielle Anreize und Wertschätzung spielen dabei eine entscheidende Rolle. Viele Ältere sind bereit, länger zu arbeiten, wenn ihnen attraktive Angebote gemacht werden. Ein Beispiel hierfür ist die von der Ampelregierung vorgeschlagene Rentenaufschubprämie, die es ermöglicht, Rentenansprüche bei Weiterarbeit über das Rentenalter hinaus auf einen Schlag auszahlen zu lassen.
Schließlich betrifft „Dürfen“ die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen. Hier müssen tarifliche und betriebliche Vereinbarungen angepasst werden, um es älteren Arbeitnehmern zu erleichtern, im Job zu bleiben oder nach einer Unterbrechung wieder ins Berufsleben einzusteigen. Die Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen und die Möglichkeit, in Teilzeit oder auf projektbasis zu arbeiten, sind entscheidende Faktoren, um das Dürfen zu gewährleisten.
Aufstockung von Teilzeitstellen als Schlüssel
Ein zentrales Potenzial liegt in der Aufstockung von Teilzeitstellen. Derzeit arbeiten etwa 3,6 Millionen Menschen zwischen 55 und 70 Jahren in Teilzeit – durchschnittlich 20,3 Stunden pro Woche. Viele dieser Arbeitnehmer könnten ihre Arbeitszeit aufstocken oder sogar in Vollzeit wechseln, wenn passende Angebote und Rahmenbedingungen geschaffen würden. Betreuungs- und Pflegeverpflichtungen, gesundheitliche Einschränkungen oder das Fehlen geeigneter Stellen sind häufig Gründe, warum eine Vollzeittätigkeit nicht möglich ist. Durch gezielte Maßnahmen, wie bessere Gesundheitsvorsorge, altersgerechte Arbeitsplätze und Entlastungen im Bereich der Betreuung, könnten bis zu 450.000 zusätzliche Vollzeitäquivalente geschaffen werden.
Rückkehr aus dem Ruhestand: Ein unterschätztes Potenzial
Neben der Aufstockung von Teilzeitstellen könnte auch die Rückkehr aus dem Ruhestand ein erhebliches Potenzial bieten. Derzeit beziehen etwa 6,1 Millionen Menschen in der Altersgruppe zwischen 55 und 70 Jahren eine Alters- oder Erwerbsminderungsrente. Interessanterweise berichten drei Viertel der Rentner ab 65 Jahren, dass sie keine gesundheitlichen Einschränkungen haben, die einer weiteren Erwerbstätigkeit entgegenstehen würden. Finanzielle Anreize und maßgeschneiderte Arbeitsangebote könnten dazu führen, dass diese Menschen länger im Berufsleben bleiben oder sogar aus dem Ruhestand zurückkehren. Dies könnte ein zusätzliches Beschäftigungsvolumen von 340.000 Vollzeitäquivalenten bis 2035 schaffen.
Eine weitere Gruppe mit erheblichem Potenzial sind die 1,6 Millionen Menschen, die zwischen 55 und 70 Jahre alt sind, aber nicht erwerbstätig und auch noch nicht im Ruhestand sind. Viele von ihnen könnten mit den richtigen Maßnahmen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Diese Maßnahmen umfassen nicht nur Gesundheitsförderung, sondern auch flexible Arbeitszeitmodelle und Unterstützung bei Pflegeverpflichtungen. Schätzungen zufolge könnten bis zu 570.000 zusätzliche Vollzeitäquivalente mobilisiert werden, wenn diese Gruppe wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren würde.
Gesetzgeber und Wirtschaft in der Verantwortung
Um das volle Potenzial der älteren Generation auszuschöpfen, müssen Politik und Wirtschaft eng zusammenarbeiten. Neben arbeitsrechtlichen Anpassungen, wie der Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen, sind auch steuerliche Anreize und der Ausbau der Gesundheitsvorsorge notwendig. Unternehmen sollten darüber hinaus verstärkt auf Weiterbildung setzen und altersgerechte Arbeitsplätze schaffen. Auch der Ausbau von Betreuungs- und Pflegeangeboten ist ein zentraler Punkt, um Älteren die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeitszeit aufzustocken oder wieder ins Berufsleben einzusteigen.
Ein besonderes Augenmerk sollte auch auf die Abschaffung von Frühverrentungsmodellen, wie der „Rente mit 63“, gelegt werden. Diese führt dazu, dass Arbeitnehmer frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden und nur schwer wieder zurückkehren. Zwar zeigt die Simulation, dass die Abschaffung der „Rente mit 63“ allein nur einen geringen Effekt hätte, doch in Kombination mit anderen Maßnahmen könnte sie Teil einer umfassenden Strategie zur Aktivierung des Arbeitskräftepotenzials Älterer sein.
Nichtstun ist keine Option
Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass der deutsche Arbeitsmarkt auf das Potenzial der älteren Generation angewiesen ist, um den demografisch bedingten Rückgang der Erwerbstätigenzahl auszugleichen. Mit einem Bündel aus passgenauen Maßnahmen könnten bis 2035 bis zu 1,36 Millionen Vollzeitäquivalente mobilisiert werden.